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Inhalt der Ausgabe 02/2021

Inhalt

Inhaltsverzeichnis / Impressum

Aufsätze

Zeit als Widerfahrnis

Passivität erscheint in einer von kapitalistischen Wertmaßstäben beherrschten Welt als Skandalon irrationalen Verhaltens. Die Erfahrung passiv erlebter Zeit ist kaum vorstellbar angesichts einer Lebens-, Alltags- und Arbeitsgestaltung, die auf Effizienz, Lückenlosigkeit und Kontrollierbarkeit ausgerichtet ist. Der vorliegende Schwerpunkt zum Thema „Zeit als Widerfahrnis: Ästhetik und Figuration passiv erfahrener Zeit“ reflektiert und diskutiert an ausgewählten Beispielen aus der Literatur des 20. Jahrhunderts Konzepte und Darstellungen von passiv erlebter Zeit und richtet damit den Fokus auf Passivität als eine Ermöglichungsform von Handlung, die jenseits der Effizienzlogik liegt.

(Ohn-)Mächtige Subjekte

Der Beitrag stellt im ersten Teil zentrale Begriffe passivitätstheoretischer Ansätze vor. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die Opposition von Aktivität und Passivität aufbrechen, um die Aktivität ausgehend von einer ,Ur-Passivität‘ zu verstehen und so neue Handlungsformen zu denken, die sich von ökonomischen oder teleologischen Modellen unterscheiden. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die Frage nach der eigentümlichen Zeiterfahrung, die durch die Passivität eingeleitet wird und die traditionelle Vorstellung eines souveränen Subjekts unterwandert. Im zweiten Teil werden die Überlegungen anhand einer exemplarischen Analyse der Formulierung „im Augenblick der Gefahr“ und deren Implikationen für eine (politische) Theorie der Passivität im Werk Walter Benjamins aufgegriffen und konkretisiert.

Im Gehäus

Gehäus und Sanduhr verweisen in der Kulturkritik (M. Weber, G. Simmel), Existentialphilosophie (M. Heidegger, K. Jaspers) und Literatur (F. Kafka, E. Jünger) der Moderne auf eine eigene ästhetische Raumzeit (un)behaglicher Passivität: Zeit wird als Widerfahrnis erfahren, die sich, so Jünger in seinem „Sanduhrbuch“, in der Tiefe anreichert. Sie setzen die Paradoxien der Moderne, deren Sehnsucht nach Behaustheit sowie deren Bestreben nach dem (Um-)Bau alter Denkhütten, ins Bild. Ikonografischer Bezugspunkt stellt Dürers Kupferstich „Hieronymus im Gehäus“ (1514) dar, den auch die Gegenwartsautorin Lewitscharoff zum Ausgangspunkt ihres „Blumenberg“-Romans wählt, in dem sie die Metaphern-Geschichte dieser existentiellen Sinnbilder literarisch produktiv macht.

Wiederholung

Der Beitrag untersucht die Wiederholung als ein temporales und ästhetisches Verfahren und Muster passiv erfahrener Zeit in ausgewählten Städtefeuilletons von Siegfried Kracauer. Im Rekurs auf theoretische Reflexionen zur Doppelrolle der Wiederholung wird gezeigt, dass wiederkehrende Ereignisse, die sich in Kracauers Städtefeuilletons zuweilen unverhofft einstellen, nicht als identische Konstellationen von Vergangenheit zu verstehen sind, sondern Verschiebungen, Verfremdungen und Potentialitäten generieren. Halb bewusst herbeigeführte und zufällig sich einstellende Wiederholungen gestalten die Gegenwartserfahrung des Beobachters unter dem Eindruck einer vorwärts gerichteten Erinnerung neu und lassen Verborgenes sowie Verdrängtes einer Gesellschaft im Umbruch sichtbar werden.

Widerfahrnis im Zeitgehöft

Der Ansatz pathischer Zeiterfahrung eröffnet neue Perspektiven auf Celans Poetik. Der Beitrag untersucht, inwiefern sinnliche Widerfahrnis von Zeitlichkeit in Celans Gedichten ein eigenlogisches Momentum des Widerstands gegen Gewalt ausmacht. Diese Figuration ist im Frühwerk stark ausgeprägt und verändert sich zum Spätwerk hin insbesondere durch Zunahme von Abstraktion. In der pathischen Eigenzeitlichkeit der Gedichte sind in kritischer Wendung gegen Heidegger bereits Facetten der Begriffe Responsivität (Waldenfels) und Resonanz (Rosa) aufgehoben.

„In tausend Formen“

Medialität und Materialität sind zwei Begriffe und Paradigmen, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Fokus der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung gerückt sind. Der Aufsatz perspektiviert eines der bekanntesten Werke Goethes, den „West-östlichen Divan“, im Hinblick auf diese neueren Forschungsparadigmen. Die Frage nach den spezifischen Medien und Materialitäten im „Divan“ verknüpft sich mit der Frage, wie Goethe das medial-materielle Bedingungsgefüge in seinem Spätwerk generell denkt und inszeniert. Es zeigt sich, dass sich für ihn damit auch eine Utopie der Vielbezüglichkeit und Vielförmigkeit verbindet, in welcher Medien und Materialitäten eine Dynamik der Transformativität ins Werk setzen.

Moderne Epigonen

Der Beitrag untersucht Hugo von Hofmannsthals früh entwickeltes Konzept künstlerisch-produktiver Originalität. Für Hofmannsthal ist es nicht die Vergangenheit, die die noch offene Gegenwart bestimmt, sondern die Vergangenheit erscheint umgekehrt als das eigentlich Unbestimmte und wird erst von der Gegenwart aus in einem kreativen Prozess als gegenwärtig wirksam bestimmt. Dazu deutet Hofmannsthal das bisher negativ bewertete Konzept der Epigonalität im Anschluss an Nietzsche neu als konstruktives, in moderne Werke mündendes Prinzip einer stetigen „Selbstverdoppelung“. Dieser Aneignungsprozess wird in exemplarischen Kurzanalysen der frühen Essays und Dramen im Kontext des Renaissancismus-Diskurses der Zeit veranschaulicht.

Der Frageklang des Klassischen

Der Beitrag rekonstruiert Walter Benjamins Stefan-George-Rezeption vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem theoretischen Komplex von Klassik und Klassizismus. Erstens korrespondiert Benjamins kritische Ambivalenz gegenüber George mit seinem problematischen Verhältnis zum ‚Klassischen‘. Zweitens ist die intendierte ‚Rettung‘ Georges dialektischer Art. In der Durchführung dieser Dialektik manifestiert sich, drittens, Georges Klassik in ihrer spezifischen Modernität.

Buchbesprechungen

Dirk Sangmeister, Martin Mulsow (Hg.): Deutsche Pornographie in der Aufklärung, Göttingen: Wallstein 2018.

Das Forschungszentrum Gotha veranstaltete Ende Oktober 2015 eine Tagung, aus der der vorliegende voluminöse Band hervorgegangen ist. Die deutsche Pornographie des 18. Jahrhunderts gehört trotz einiger in den letzten Jahren erschienenen Studien und Sammelbände immer noch zu den Desideraten der Forschung und bietet darüber hinaus eine Vielzahl von Fallstricken: die Texte sind kaum verfügbar, sie liegen weitgehend im Schlagschatten der ästhetisch und philosophisch überlegenen libertinen Literatur des ancien régime, die Autoren und vielleicht auch Autorinnen sind in der Regel nicht bekannt, die Verlagsverhältnisse sind oftmals verschleiert, die vorliegenden Verzeichnisse sind revisionsbedürftig und noch nicht in der Breite ausgewertet, Nachdrucke liegen kaum vor, geschweige denn textkritische Editionen, die einschlägigen Sammlungen sind oft zerfleddert – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Stephanie Gleißner, Mirela Husić, Nicola Kaminski, Volker Mergenthaler: Optische Auftritte. Marktszenen in der medialen Konkurrenz von Journal-, Almanachs- und Bücherliteratur, Hannover: Wehrhahn 2019 (= Journalliteratur 2).

„Die Bilderwissenschaft ist mühelos, verglichen mit der Bücherwissenschaft.“ – Man kann die vorliegende, kollaborativ verfasste Studie als den abermaligen Versuch lesen, dieses vielgescholtene Diktum zu widerlegen. Ihren Gegenstand bildet gerade die materiell und medial induzierte Verflechtung des Visuellen und des Literarischen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Analyse mithilfe des Begriffs der ‚Marktszene‘ methodisch kontrolliert werden soll. Blickleitend ist der Einleitung (Kaminski/Mergenthaler) zufolge, ausgehend von einer Lektüre der Hoffmann-Novelle „Des Vetters Eckfenster“, das Ineinander von Konkurrenz und optischer Salienz auf dem deutschsprachigen Zeitschriften- und Taschenbuchmarkt im besagten Zeitraum.

Johannes Görbert, Nikolas Immer (Hg.): Ambulante Poesie. Explorationen deutschsprachiger Reiselyrik seit dem 18. Jahrhundert, Berlin, Boston: de Gruyter 2020.

Reiseliteratur in lyrischen Versformen erlebt in den jüngsten Jahrzehnten eine neue Hochkonjunktur im deutschsprachigen Raum – ob das einer Globalisierungstendenz der Lyrik geschuldet ist oder schlicht auch an den zahlreichen Fördermaßnahmen von Goethe-Instituten und anderen liegt, die Autor*innen grundsätzlich mehr auf die Reise gehen lassen, sei hier einmal dahingestellt (sollte aber vielleicht Gegenstand einer literatursoziologischen Untersuchung sein). Umso mehr wird zum Desiderat, was der vorliegende Band, dessen Beiträge weitgehend einer 2018 in Bern abgehaltenen Tagung zum Thema entstammen, angeht, nämlich in systematisierender Perspektive eine stattliche Zahl Sondagen in ein Gattungsfeld zu versammeln, das damit im Vergleich zu der breit untersuchten (quantitativ deutlich umfassenderen) Reiseliteratur in Prosa endlich auch angemessen erschlossen werden kann und damit nicht mehr nur als Randphänomen erscheinen wird.
DOI: https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2021.02
Lizenz: ESV-Lizenz
ISSN: 1868-7806
Ausgabe / Jahr: 2 / 2021
Veröffentlicht: 2021-06-18
 

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